Fütterung

von Luxus Lazarz

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Vor vielen Jahren lebte und wohnte ich in einem nördlichen Randbezirk der Stadt Berlin. Diese sogenannten Randbezirke in allen Städten haben eines gemeinsam, sie enden, beziehungsweise münden überwiegend – direkt in natürlichen Landschaften. Darin findet man dörfliche Gemeinschaften und auch jene teilweise noch unberührte Natur, die sich dann weiter erstreckt bis wieder eine Stadt oder ein Städtchen in hier auftauchen.

Auch jener Stadtbezirk in der Hauptstadt, in dem ich damals wohnte, grenzte unmittelbar an die Natur. Ein großer See und dichte Wälder bildeten den Abschluss der städtischen Ansiedlung. Aus dem See ragten in Sichtweite mehrere kleine Inseln heraus, auf denen kleinere Hütten und Häuser standen. Der Ort in seiner Fülle der natürlichen Eindrücke war einzigartig, und auch in den Straßen des Stadtbezirks wuchsen zahlreiche Bäume, teilweise sehr alte Bäume von vielfältiger Art. Um von der Wohnungstür an den See zu gelangen und von dort, durch den weitläufigen Wald zu spazieren, brauchte ich nur acht Minuten Richtung Osten zu laufen, also dorthin – wo alltäglich die Sonne aufgeht.

In den ersten zwei Wintern von fünfen, die mir damals in der Dachgeschosswohnung eines mehr als 100 Jahre alten Mietshauses zuteil wurden, hatte ich das schöne Umfeld im Winter ignoriert. Meine berufliche Tätigkeit nahm mich damals derart in Anspruch, dass ich in den wenigen Stunden Freizeit am liebsten mit einem Buch im Warmen blieb. Im dritten Winter war ich dann arbeitslos und hatte dementsprechend viel Muße und Zeit am Tage und dies zu ungewöhnlicher Stunde, an den See und in den Wald zu gehen. Auf dem See waren ein paar Schwäne heimisch, desweiteren Haubentaucher, Blesshühner und Enten. Und natürlich kreiste auch hin und wieder ein Paar Möwen im Himmel über dem See.

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An diesem Tag, an dem ich erstmals im Winter zum See ging, hatte es in der Nacht geschneit. Auf dem Rückweg vom Bäcker, lauschte ich dem Knirschen des Schnees unter den Schuhsohlen, und wählte dann einen kleinen Umweg, der mich am See entlangführen sollte. Die Sonne schien, und so empfand ich trotz des Schnees die Temperatur der Luft eher mild als frostig. Langsam lief ich auf der Promenade entlang und liebäugelte mit einer der Bänke, die dort in kurzen Abständen aufgestellt waren. Nachdem ich die Schneeschicht mit dem Handschuh von einer Sitzfläche hinunter gewischt hatte, setzte ich mich für einige Minuten und blickte auf den See, dessen Uferrand nur ungefähr vier Meter entfernt lag. In einer Hand hielt ich – fast vergessen – die Tüte mit einem Brötchen, das ich später zu Hause zum Frühstück essen wollte. Die Tüte erregte allerdings bei den Enten am Seeufer Neugier und gleich vier kamen direkt auf mich zugewatschelt. Diese Vier holten sich beinahe, das gesamte von mir zerbröckelte Brötchen. Ein Häufchen Krümel fiel zwei frechen Spatzen zu, und ein größerer Brocken wurde von einer Möwe weggefischt. Die Enten waren mir dabei ganz nah, die Spatzen schon beinahe dreist, direkt neben mir auf der Bank, und nur die Möwe hielt zwei Meter Abstand, bevor sie unerwartet nieder flog. Die Schwäne und Blesshühner verweilten in sicherer Entfernung und beobachteten das bewegte Ereignis anscheinend teilnahmslos.

Dieser eine Moment bereitete mir so viel Freude und brachte mir ebenfalls viele schöne Begebenheiten aus den Wintern der Kindheit in die Erinnerung zurück, sodass ich spontan beschloss, solange der Schnee liegen blieb, die kleine Vogelgesellschaft einmal am Tag zu füttern.

Die nächsten vier Wochen schneite es hin und wieder und während der Schnee auf den Straßen der Großstadt relativ schnell wieder abschmolz, hielt sich das weiße Wasser auf den Wiesen direkt am See vollkommen unbeeindruckt im sichtbaren Bereich. Jeden Tag ging ich nun an den See zu meinen neuen alten Freunden, den wassernahen Vögeln und genoss die stille Freude beim Wahrnehmen, der wachsenden Vertrautheit von den Tieren mit mir. Hatte es sich anfänglich um eine Gruppe von etwa 30 Vögeln verschiedener Arten gehandelt, waren nach zwei Wochen mehr als 20 weitere hinzugekommen. Es hatte sich herum gezwitschert, dass dort am Ufer jeden Tag ein Brot verteilt wurde. Zwischenzeitlich zählte ich vier Möwen, nahm viele Enten wahr, ein halbes Dutzend Schwäne, vier Paare Haubentaucher, sehr viele Blesshühner und kleinere Vögel, wie Spatzen, Amseln und Meisen. Hinter meinem Rücken hörte ich die Spechte klopfen, welche sich jedoch niemals zu uns gesellten. Komplette sechs Wochen lang, schenkte ich mir jeden Tag diese wunderbare Erfahrung, und erst als der Frühling sich zeigte, beendete ich das Füttern sanft.

In der von mir gewählten Stunde des Tages, gab es überraschend wenige Spaziergänger auf der Promenade, und ich sah auch kein einziges Mal noch jemanden die Vögel füttern, dort am See. Dass dies zu anderer Zeit geschehen war, wenn ich es nicht sah, schließe ich selbstverständlich nicht aus.

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Im folgenden Frühling verreiste ich öfter, und so zog es mich erst wieder im Sommer an den See. Die Wasservögel hatten sich nun vom Ufer entfernt und schwammen mittendrin oder nisteten im Schilf des Uferstreifens. Auf der Promenade waren bei schönem Wetter stets viele Menschen unterwegs, denn im Sommer konnte man von hier auf einen Ausflugsdampfer steigen und zum Beispiel bis nach Potsdam gleiten. Im Herbst nahm ich dem See ferne Wege, die mich direkt in den Wald führten. Als dann im nächsten Winter der erste Schnee fiel, erinnerte ich mich wieder an die Vögel und kaufte freudvoll ein Brot vom Vortag beim Bäcker. Dieses schnitt ich Zuhause ganz sorgfältig in viele kleine Stücke, die anschließend in eine Papiertüte getan wurden. Derart ausgerüstet und vorbereitet, ging ich erwartungsvoll zum See.

Dem See vorgelagert befand sich eine große Wiese, welche sich komplett mit einer dichten Decke aus Schnee überzogen darbot. Ich sah nur kurz zum Seeufer, welches noch 15 Meter entfernt lag und bemerkte dort sofort mehr als ein Dutzend Schwäne, in der Luft darüber kreiste eine Gruppe Möwen, und eine größere Ansammlung Blesshühner hatte sich am Ufer niedergelassen. Dann wandte ich den Blick wieder ab, denn in diesem Moment zog es mich innerlich zu der Wiese hin.  Ich wollte zuerst im Schnee knirschen und ging auf die Mitte der großflächigen Anlage zu. Dort angekommen, blieb ich auf dem Fleck stehen, und weil mir gerade so war, streckte ich die Arme über den Kopf in Richtung Himmel. In einer Hand hielt ich dabei die Papiertüte. Da sah ich direkt über mir eine Möwe in der Luft stehen, dabei lautlos mit den Flügeln schwingend. Ich senkte langsam die Arme, griff in die Tüte und warf ein Stückchen Brot zu der Möwe, hoch in die Luft. Diese schnappte tatsächlich die kleine Beute, und sofort war eine weitere Möwe da, die mir in nur etwa einem Meter Entfernung ihre Flugkünste vorführte. Alles passierte sehr langsam, denn ich sah jede einzelne Feder und deren sanfte Bewegungen, trotz der Geschwindigkeit der Schwingungen. Die Schönheit der Möwen, ihre Balance und Kraft sind unbeschreiblich vollkommen.

Da nahm ich vor mir ebenfalls Bewegung wahr und sah, dass sich eine größere Gruppe Enten und Schwäne, direkt auf mich zu bewegte. Sogleich griff ich in die Tüte und warf die Bröckchen zu der hungrigen Meute hin.

Während ich nun abwechselnd und dennoch irgendwie gleichzeitig, die Möwen sowie auch Enten, Schwäne und Vögel vor und um mich herum fütterte, fühlte ich eine leichte Bewegung auf den Stiefeln. Sanft nach unten blickend sah ich dort, dass auf jedem Fuß jeweils ein Blesshuhn mit aufgesperrtem Schnabel stand. Es fiel mir nicht leicht, still, gebend und empfangend zugleich zu sein. Doch es gelang über ungezählt viele Minuten, keinen Gedanken zu denken und einfach innerlich nur still zu sein. Zeit wird in solchen Momenten sowieso absolut bedeutungslos. Jeder einzelne dieser wundersamen Augenblicke dauert genau so lange an, wie man es aushalten kann, das Glück, die Liebe, die Schönheit, die Freude, das Sorglose sowie das Unbekannte und Undenkbare. Den Rest des Tages habe ich gelächelt, einfach so, ohne jede Anstrengung oder weiteren Anlass.

Die vorstehend beschriebene Erfahrung, fiel mir nur ein einziges Mal zu. Danach traf ich mich wieder mit den Hungrigen, an der gewohnten Stelle des Vorjahres. Im Verlauf der folgenden vier Wochen – fütterte ich erneut täglich und konnte nicht übersehen, dass es übers Jahr weit mehr als 120 Tiere geworden waren. Also kaufte ich nun jeden Tag zwei alte Brote und bekam beim Bäcker Rabatt. Und wahrlich alle Arten hatten sich stark vermehrt, denn wo das freilebende Tier auch im Winter Futter findet, da kann es sich ohne Sorge niederlassen und paaren. Jede Art für sich betrachtet, stellte nun eine Menge dar, und die Mengen als ein Ganzes gesehen offenbarten mir, was man wahrhaft Fülle nennt. Jedenfalls derart, wie sie in der Natur und dies stets ohne großen Aufwand erwächst. In der letzten der vier Wochen, setzte sich eine ältere Frau zu mir und fütterte ebenfalls das Gewimmel um uns herum. Wir sprachen nur wenig, grüßten einander und genossen das zauberhafte Schauspiel still lächelnd.

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Im dritten Winter in Folge, stand mir nur noch wenig Geld für Extras zur Verfügung, und ich bat um eine außerordentlich milde Witterung. Beim ersten Schneefall meldete sich dann in mir ein schlechtes Gewissen, denn irgendwie trug ich ja die Verantwortung für die Fülle der hungrigen Vögel. Ein halbes Brot in kleinen Bröckchen bekam ich dennoch zusammen, und so machte ich mich – dieses Mal etwas zögerlich – auf den Weg zum See.

Das Erste, was ich dort sah, war der riesige Fleck aus Wasser- und Landvögeln im Uferbereich der Promenade. Es waren etwa doppelt so viele Exemplare, als noch im Winter zuvor gezählt. Doch dann umfasste mein Blick auf der Promenade auch vier menschliche Gestalten, die alle einen Beutel in der einen Hand hielten und mit der anderen aus dem Beutel Brot auf den Uferstreifen warfen. Schließlich erkannte ich sogar die Frau aus dem Vorjahr wieder, und in mir stieg Freude auf, denn nun wusste ich, für alles war ausreichend gesorgt.

„Sorge dich nicht um den nächsten Tag, der nächste Tag sorgt für sich selbst.“, ist nur eine wundersame Empfehlung aus den Evangelien der Jünger Jesu, die sich in meinem Leben zunehmend als Wahrheit offenbarte. Der Winter blieb 2005 nur kurz in Berlin, dafür schneite er sich anderenorts im Land wochenlang stürmisch und kraftvoll aus.

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Der erinnerte Wetterbericht ist natürlich nicht der Grund, warum ich die Erfahrung ausschrieb. Vielmehr sollte deren Inhalt in einfacher Art verdeutlichen, dass alles, was der Mensch füttert auch wächst, gar wachsen muss und sich schließlich vermehrt. Jeder Mensch kann in seinem Leben auf Erfahrungen zurückblicken, die ihm diese einfache Wahrheit widerspiegeln. Er selbst ist sogar ein Beweis. Denn wäre sein Körper nicht im Säuglingsalter und darüber hinaus gefüttert worden, hätte er weder wachsen, noch sich jemals fortpflanzen können. Also Punktum, was man füttert das wächst. Was man nicht füttert, muss sich anderswo Nahrung suchen, anpassen oder verhungern.

So, wie ich damals die Schwäne auf dem See fütterte, so tat ich es ebenfalls mit allen Ängsten in mir. Das innerste Wesen des Menschen ist hungrig und durstig, wenn es in der Welt des verdichteten Lichtes erscheint. Es nimmt, was sich ihm anbietet, denn Anderes kennt es ja nicht. Genauer geschrieben – noch nicht, da irgendwann beinahe jeder Mensch offiziell reif genug scheint, um für sich selbst zu entscheiden, was er speisen und sich dementsprechend einverleiben will. Dies gilt gleichfalls für die greifbare Nahrung und für all jene von geistiger Art. Also Gedanken, Gefühle, Bilder, Eindrücke, Fantasie und Vorstellung von zukünftigen Ereignissen. All diese Lebensmittel können dem Menschen Kraft geben und rauben.

So raubt mir zum Beispiel jede nutzlose Angst ungezählte Momente, in denen ich vollkommen frei sein könnte und dies allumfassend in Seele, Geist und Herz. Ob es nun die Angst vor dem Inhalt eines Briefes ist, die Angst, dass etwas schiefgehen könnte, der Gang zu einer unangenehmen Aussprache, man kann diese Dinge nicht umgehen, will man in der eigenen Entwicklung und im Leben weiterkommen, mehr verstehen, tiefer fühlen und Antworten dort finden, wo man sie niemals zuvor vermutet hatte.

Von Jugend an, erzeugte ich in mir ein Bild der Wirklichkeit, welches mit den wahren Gegebenheiten letztendlich nicht übereinstimmte. So öffnete ich einmal einen Brief erst nach mehr als vier Wochen, da ich Angst vor dessen Inhalt hatte. In Wirklichkeit stand etwas sehr Erfreuliches darin, und ich hatte mich selbst absolut unsinnig die ganze Zeit mit Angst gefüllt. Eine immer wieder hinaus geschobene Aussprache, brachte es mit sich, dass das Verhältnis zweier Menschen von einer Gegnerschaft zur friedlichen Koexistenz umgewandelt wurde, was wiederum fruchtbare Impulse im gesamten Umfeld zündete. Die Angst, dass etwas schiefgehen könnte, also nicht derart laufen, wie wir es uns haben vorgestellt, ist die größte Zeitverschwendung. Kein Mensch kann hinter ein Ereignis schauen, das noch gar nicht stattgefunden hat. Sowie man das fühlend versteht, ist das Jetzt wieder schön.

Da natürlich in der Schöpfung nichts sein kann, was ohne Nutzen ist, erkenne ich jetzt an, dass der Nutzen all jener – nun wahrhaft weglassbarer Ängste stets darin bestand, mich wach zu machen für die Wirklichkeit. So kann ich in jedem Moment, der sich in mir ängstlich anfühlt – still in mich fragen, was ist wirklich, was erscheint mir nur derart, und was ist für mich wahrhaft von Wert?
Oder auch nur: Was füttere ich in diesem Moment in mir?

 

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