Die letzte Reise – Teil 10

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Nur scheinbar alt

 

Die 90jährige saß in ihrem Sessel und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum Menschen vorsätzlich die Scheiben von fremden Autos zerkratzen, gar neuwertige Fahrzeuge in Brand stecken, wieso?“ Währenddessen hielt sie die Zeitung in den Händen, aus welcher sie von der Missetat, der ihr unbekannten Anderen, erfahren hatte. Mit ernstem Gesicht sah sie zu der mehr als 30 Jahre Jüngeren hinunter, die rechter Hand am Sessel der Älteren auf dem Teppich saß. Die Jüngere lauschte daraufhin in sich und stellte sich nun diese Frage innerlich selbst.

Nur oberflächlich hatte sie bisher, über mögliche Motive von Zerstörern nachgedacht. Was bewegte einen Menschen, derartiges zu tun? In einem Kurs für Praktisches Leben wurde sie vor einem Jahr darüber aufgeklärt, dass ein Mensch sich nur in zweierlei Art ausdrücken, beziehungsweise bemerkbar machen konnte. Zwar kann die Form des Ausdrucks ungezählt varieren, jedoch war eine jede, entweder ein Ausdruck von Liebe oder der Ruf nach dieser. Dass jegliches zerstörerische Verhalten, offensichtlich kein Ausdruck von Liebe sein konnte, schien unbestritten. Also blieb als Grundmotiv der Zerstörer nur noch der Ruf nach Liebe übrig. Diese Überlegung teilte die Jüngere nun mit der Älteren.

Es folgte ein Moment der Stille, und so ergab sich der Anschein, dass die Ältere tatsächlich über das Gehörte nachdachte. Plötzlich lachte sie auf, schüttelte wieder den Kopf und fragte dann: „Das meinst du doch nicht ernst?“ Jetzt lachte auch die Jüngere, weil das Lachen im Gesicht der Älteren, tatsächlich allen Ernst aus dem Raum entfernt hatte.

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Nur wenige Stunden waren vergangen, als sich die Jüngere an das Gespräch vom Vormittag erinnerte. Still lauschte sie in sich. Ihre Antwort war stimmig gewesen. Sie selbst hatte in ihrem bisherigen Leben, mancherlei Beziehung und Ding mittels Gedanken, Worten und Taten zerstört, weil sie sich als nicht genug geliebt wahrnahm, unverstanden fühlte und für dieses Empfinden, ihre Mitmenschen verantwortlich glaubte. Sie wähnte sich dabei stets im Recht, denn das Problem waren eindeutig die Anderen. Der Andere, welcher sich nicht so verhielt, dass sie es als einen Akt der Liebe oder Ausdruck von Verbundenheit deuten konnte.

Gott sei Dank, wurde sie eines schönen Tages in einem der vergangenen Jahre, von einem Engel nachhaltig dafür aufmerksam gemacht, dass ihre Fähigkeit, die Liebe zu deuten, grobe Mängel zeitigte, wenn nicht sogar absolut unbrauchbar war. Der Engel wies damals desweiteren darauf hin, dass sie, also die Jüngere, gar keine Ahnung hätte, was Liebe wirklich sei. Als sie dem Gesagten forsch widersprechen wollte, verschwand der Engel plötzlich und übergab sie der Stille und sich selbst.

Abdann lernte die Jüngere Schritt für Schritt und durch viele Jahre hinweg, nach dieser, ihr angeblich unbekannten Liebe zu suchen und weitestgehend nur noch nach dieser zu schauen. Zwar hatte sie keine Ahnung, was der Engel damals mit seiner Auskunft mitteilen wollte, dennoch begann sie darüber nachzudenken und schließlich all das, nach ihrem Gefühl von der Liebe Abweichende, aus den Gedanken und dem suchenden Blick zu verbannen. Diese scheinbare Ignoranz des Ungewollten, hatte sie nicht erblinden lassen. Eher konnte man sagen, dass in ihrer fortlaufenden Erfahrung des Lebens, mehr und mehr Frieden, Schönheit und Stille zu einem Selbstverständnis wurden und dies relativ mühelos. Nicht immer, doch immer öfter. Das Erkennen der Liebe dehnte sich sanft aus. Es genügte, den Geist bereitwillig im Jetzt zu halten und nur noch das zu sehen und zu bedenken, was tatsächlich und auch wirklich Jetzt und Hier war.

Dieser Wandel im Geist, stillte wachsend den einstigen Ruf nach Liebe in ihr. Stetig mehr schwanden alle Angriffslust und auch mancherlei stummer Widerstand aus ihrem Denken. Zuvor hatte sie sich, mit ihrer gewohnten Art zu denken, selbst eine Hölle mit Pausenbereich geschaffen. Wundersam nachhaltig wirkte allein noch jene Erkenntnis, dass das Leben viel einfacher und schöner war, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Und auch, dass das Vorstehende keine Frage des Habens war, sondern allein die Folge des fried- und freudvollen Seins im Wahrhaftigen, das wollte und konnte sie nicht mehr länger ignorieren.

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