Wahrscheinlichkeiten
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Je bekannter mir etwas erscheint, umso wahrscheinlicher ist es für mich. Nur das mir Unbekannte, muss ich hinterfragen. Ich frage nach dem Hören oder Sehen der Erscheinung, also hinterher, denn zuvor gab es die Frage noch nicht in mir. Bis ich mich selbst von der Wahrhaftigkeit der Erscheinung überzeugt habe, arbeite ich in mir mit dem Unwahrscheinlichkeitsfaktor, denn was mein Verstand nicht kennt, kann auch eine Täuschung sein.
Stell Dir einmal vor, dass es in Wirklichkeit genau umgekehrt ist. Also das die Erscheinung nur wahr für Dich und mich wird, weil wir sie derart wahrnehmen. Allein der Gedanke, dass es so sei, bewirkt sofort eine Bewegung im Gehirn. Eventuell musst Du auch lachen, weil dies ja unsere gesamte Existenz, beziehungsweise deren Wahrnehmung durch Dich und mich, in Frage stellt. Also all das, was Du und ich zu wissen und zu sein glauben. Dann wäre jedes – Dir direkt bekannte Opfer – in Wahrheit ein Täter, der sich selbst als Opfer darstellt. Bei dieser Art der Sicht geht es nur um Dich und mich, denn was in der Zeitung steht, wie wahrscheinlich dies ist, wissen weder Du noch ich.
Als Beispiel zur Erläuterung der umgekehrten Wahrnehmung diene hier nun ein Mensch, der darauf besteht, dass er viel Streß im Leben erfährt, dies auch beharrlich mitteilt und sich diesen selbstbestimmten Fakt von anderen Menschen gern bestätigen lässt. Dieser wäre dann wahrhaft ein Täter, der sich Streß macht, doch im eigenen Kopf als ein Opfer seiner Entscheidungen und musshaften Taten wahrnimmt. Durch die Bestätigung des Anderen, erhält dieser Mensch eine Zustimmung für sich, dass jenes, was er denkt – tatsächlich wahr ist. Somit ist die Potenz des Wahrscheinlichkeitsfaktors von der Menge der Bestätigungen einer Erscheinung abhängig. Ein Mensch, der keine Bestätigung oder Zustimmung für seine Wahrnehmungen erhält, kann Verzweifeln, Schuld zuweisen, von Ignoranz sprechen, sich selbst Bedauern, aber auch Einsehen, dass er sich in einer Sackgasse verirrt hat.
Je mehr Menschen Dinge und Gegebenheiten in ähnlicher, gleicher, beziehungsweise übereinstimmender Form wahrnehmen, umso wahrscheinlicher, realer, tatsächlicher – werden diese und fordern zu dementsprechenden Antworten, beziehungsweise Reaktionen heraus. Man sieht, was man denkt, beziehungsweise glaubt zu sehen. Für eine andere Sicht der Dinge ist dann kaum noch freier Raum im Gehirn. Allerdings wirklich und wahrscheinlich kann lediglich sein, dem man unmittelbar im Jetzt begegnet. Unwahrscheinliches kann selbstverständlich, dies auch ohne direkt vorliegenden Anlaß, jederzeit und überall im Menschen begutachtet werden. So gesehen ist alles, was der Mensch fern vom Gegenwärtigen in sich selbst bedenkt, stets unwahrscheinlich, weil es eben nicht Bestandteil seiner an und für sich unmissverständlichen Wirklichkeit ist.
Wie oft bin ich, ist mein Geist ausschließlich mit dem Unwahrscheinlichen beschäftigt, anstatt dem scheinbar Wahrscheinlichen im Gegenwärtigen Beachtung zu schenken?
Also zum Beispiel, dem vollen Teller vor ihm auf dem Tisch während einer Mahlzeit oder auch dem Raum, der ihm zur Verfügung steht, und natürlich vordergründig insbesondere dem oder den Menschen, die in meiner Nähe weilen. Anstatt über das Unwahrscheinliche nachzudenken, könnte man auch einfach nur das Leben in sich fühlen, den Geräuschen im Wahrscheinlichen lauschen, ohne diesen Gedanken und somit Bedeutung zuzuordnen. Einfach nur da sein, ohne Ziel und Plan für die nächsten Minuten, um sich in das wirklich Wahrscheinliche einzufühlen. Hingabe an das Gegenwärtige stimmt nämlich heiter, öffnet die Sinne und macht angenehm wirklich, was nur Minuten zuvor noch unwahrscheinlich erschien. Also Frieden und so.
Die Umkehrung offenbart das Unwahrscheinliche als wahr und entlarvt, was sich den Anschein der Wahrheit gab – als Täuschung, Lüge, Fehlwahrnehmung oder auch Illusion. Und offensichtlich ist, dass jeder, der gegen Illusionen zum Kampf antritt, nur sich selbst bekämpft, oder vielmehr die Schatten, welche er unwissentlich mittels seiner Gedanken in die Welt eingebracht hat.
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