Werktätige Dichter (2)

von Luxus Lazarz

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Seit vielen Jahren befindet sich ein Buch in meinem Besitz, dessen Titel mich einst unglaublich neugierig machte. Der Titel des Buches lautet

Das Undenkbare denken

Vom Ursprung des Lebens bis zum Weltuntergang[1].

In diesem Buch findet der Leser eine Reihe von unerklärlichen Phänomenen sowie überraschende Einsichten in den Randbereich aller Wissenschaft.

Der Autor des Buches, beziehungsweise einer ganzen Reihe von Büchern, ist ein Prof. Dr. Hans Biedermann, welcher 1930 in Wien geboren wurde und laut der im Buch abgedruckten Kurzbiographie – einen Großteil seines Lebens den Studien von prähistorischen Kulten und ungeklärten Phänomenen aller Art widmete. Er verfasste viele Bücher und in keinem dieser – ging es um alltägliche Themen. Die Originale sind in Englischer Sprache geschrieben und wurden dann von einem Schweizer Verlag in das Deutsche übersetzt. Ein Verfahren, was schon etwas merkwürdig anscheint, zumal der Herr Prof. – als geborener Österreicher – mit hoher Wahrscheinlichkeit auch selbst des Deutschen mächtig war. Dennoch erschienen die Bücher der Reihe: Die Welt des Unerklärlichen – zuerst in London. Jenes Buch, mit oben genanntem Titel – aus dem ich hier ein Beispiel nacherzähle, wurde dort erstmals im Jahr 1984 publiziert.

Das für mich interessanteste Kapitel im Buch, trägt die Überschrift:

Die mahnende Stimme

und befasst sich mit Ereignissen, denen eine prophetisch anmutende Ankündigung vorausging. Ich selbst empfinde, dass die nachfolgende Geschichte aus diesem Kapitel des Buches, keine prophetische Ankündigung war, sondern vielmehr eine Massensuggestion verursachte.

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1898 erscheint in Amerika ein Roman mit dem Titel Futility (in Deutsch: Sinnlosigkeit, Vergeblichkeit). Geschrieben wurde das Buchwerk – von dem noch um Anerkennung ringenden Schriftsteller Morgan Robertson.

Die Geschichte beschreibt die Jungfernfahrt eines Passagierdampfers, welcher im Buch ganze 70 000-Tonnen wiegt. Eines nachts stößt das Schiff gegen einen Eisberg. An Bord halten sich 2 500 Passagiere auf, von denen nun mehr als die Hälfte im Roman sterben müssen, weil es nämlich auf dem Schiff nicht genug Rettungsboote gibt. Insgesamt sind es 24 Rettungsboote, doch aufgrund der zugelassenen Anzahl Passagiere – hätten es doppelt so viele sein müssen. Der Name des Schiffs lautet im Roman: SS Titan.
Viele Menschen lasen damals den Roman. Es sollen mehr als 100 000 gewesen sein. Wie viele von den Lesenden wohl fühlten, was sie lasen, oder sich sogar mit den Romanfiguren verbrüderten, grad so – als ob diese echte Gestalten wären?

Etwa 9 Jahre nach dem Erscheinen des Romans in Amerika, greift in London ein englischer Herausgeber und Journalist, namens William T. Stead, das Thema wieder auf und veröffentlicht eine ähnliche Geschichte in seiner Londoner Zeitung. Das Schiff in dieser Version ist nun deutscher Herkunft. Und laut vorliegendem Datenmaterial, fügte der Herausgeber und Journalist, der von ihm veröffentlichten Tragödie – noch einen Nachsatz an. Eine Moral sozusagen, mit welcher W.T. Stead noch einmal auf den Inhalt der Geschichte verwies und darauf aufmerksam machte, (im Folgenden wörtlich zitiert)

„… das wäre, was geschehen könnte, und auch geschehen wird, wenn man Passagierschiffe mit zu wenig Rettungsbooten in See stechen lässt.“

Wieder lesen tausende Menschen die Geschichte in der Londoner Zeitung. Natürlich nicht so viele Menschen, wie heutzutage Bücher lesen, Filme sehen und beinahe hautnah bei fiktiven Katastrophen dabei sind.

Drei Jahre nach dem vorstehenden Ereignis, am 10. April 1912, begibt sich genau jener englische Herausgeber und Journalist, namens W.T. Stead, der das Drama noch einmal persönlich aufgewärmt hat,  an Bord des englischen Luxuspassagierschiffs ‚RMS Titanic‘. Mit ihm befinden sich noch weitere 2223  Menschen, die auf eine sichere Überfahrt vertrauen an Bord. Alle nachfolgenden Daten sind ebenfalls dem Buch entnommen. Das echte Schiff wiegt 66 000 Tonnen und ist das größte und modernste seiner Art zu dieser Zeit. Begleitet vom Jubel der Menge, verlässt die RMS Titanic den sicheren Hafen.

Es ist die Nacht des 14. April 1912, in der die RMS Titanic – einen im Atlantik treibenden Eisblock rammt und nur kurze Zeit danach sinkt. Zusammen mit 1512 anderen Menschen, stirbt auch der Journalist und Zeitungsverleger W. T. Stead – in den eisigen Fluten des Atlantik. Denn es gab bedauerlicherweise auf dem luxuriösen Schiff, nur 20 Rettungsboote und das waren – wie durch Mr. Stead angekündigt – zu wenig.

Ein Jahr nach dem Untergang der RMS Titanic stirbt auch der Schriftsteller Morgan Robertson, und zwar unter mysteriösen Umständen in einem Hotel, welches in einer Stadt namens Atlantic City steht. Sollte der Verlauf dieser Geschichte wahr sein, ist das schon sehr merkwürdig.

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Liest man den detaillierten Verlauf des tatsächlichen Untergangs der Titanic, so wie dieser auf Wikipedia beschrieben steht, mutet der zeitliche Ablauf wie ein numerologisch perfekt organisiertes Ereignis an. Man bedenke dabei, die Idee wurde bereits beim Schreiben der Geschichte in den Raum des Lebens gestellt. Ob es nun Gott war, der diese Gedanken wahr machte oder die Menschen selbst, bleibt ungeklärt.

In dem Buch, aus dem die Daten stammen, wird auch darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller vor dem Erscheinen seines Romans ‚Futility‘, noch ohne Erfolg war. Dementsprechend brauchte er eine Story, die zu Herzen ging. Somit war es kein prophetisches Werk, sondern vielmehr die düstere und deshalb verkaufsträchtige Fantasie von einem Mann, der um jeden Preis Erfolg haben wollte. Was ihn letztendlich eine herzzerreißende Abwechslung für all jene erdenken ließ, die hungrig nach dem Leben Anderer sind. Das Werk traf den Geschmack der Zeit und fand reißenden Absatz. Doch einfühlsam betrachtet – ist es keine besonders schöne Geschichte, auch wenn sie in den Details mit Reichtum nicht geizt.

Echt mal, brauchen die Menschen – Geschichten über Katastrophen, blutrünstige Szenarien, das totale Grauen, den Weltuntergang in Literatur und Kino vor Augen, um sich selbst zu fühlen und zu erkennen? Es gibt sogar Aufzeichnungen diesbezüglich, dass die Inhalte brutaler Filme, so manchen Zuschauer erst auf Gedanken brachten, die er ohne den filmischen Anstoß, gar nicht hätte ausleben können.

Die Filme, welche den Menschen heute angeboten werden, lassen nicht nur ein Schiff untergehen, sondern die Sonne, die Erde, ganze Sonnensysteme, und der Zuschauer ist unglaublich beeindruckt – von der Fantasie, der technischen Umsetzung und natürlich den unnachahmlichen Leistungen der Stars. Nicht selten klatscht man auch noch Beifall, wenn der Vorhang fällt, sich dabei vollkommen sicher wähnend – in der eigenen Welt.

So dachte auch W.T. Stead, bevor er an Bord der RMSTitanic ging. Er beschäftigte sich intensiv mit einem Thema, dass er selbst gar nicht erleben wollte und knöpfte seinen Lesern dafür sogar noch Geld ab, dass sie es ihm gleich taten. Und letztendlich begab der Nachahmer sich eigenfüßig genau an jenen Ort, an dem dann uraufgeführt wurde – was tausende Menschen zuvor mittels Anteilnahme, Begeisterung und Emotionen, in das Feld der Ereignisse eingespeist hatten. Fast Eins zu Eins wurde die Geschichte des Romans letztendlich in die Wirklichkeit eingebracht. Nur die Nationalität der Schiffe wich von der englischen Vorgabe ab.

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Alles in Allem – es bleibt mysteriös, zumindest was die Geschichten um das vergangene und zukünftige Weltgeschehen anbelangt und auch um jene Mächte, welche die Ideen, Vorgaben und Dunkelszenarien – von einer Hand voll kreativer – doch anscheinend empfindungsarmer Menschen – an das Volk verfüttern und dadurch letztendlich die reale Wahrnehmung jeder Fantasie begünstigen.
Doch – wie sich die Dinge im eigenen und echtem Leben ergeben, kann der Mensch schon einsehen, wenn er sich einen Moment der Besinnlichkeit schenkt. Des Menschen Leben ist kein Schiff, das einfach mal so untergeht, wenn wir den Plan dafür – nicht in uns selbst inszenieren.

Der Mensch ist nicht – was er sich an Materie einverleibt, vielmehr ist es der Geist in ihm, welcher Form und Ausdruck des wohlgefälligen Lebens vorgibt. Hier fallen mir noch die Worte des Apostel Paulus aus der Bibel in die Erinnerung:

Alles ist erlaubt,
doch nicht alles ist nützlich.
Alles ist erlaubt,
doch nicht alles erbaut.[2]

Ein Mensch ist fähig, seinen eigenen Geist zu beherrschen, seine Fantasie zu zügeln und in Bahnen zu lenken, die wohlgefällig sind und kein lebendig Wesen, nur mal so zum Amüsement qualvoll sterben lassen. Dort geb ich keinen Blick mehr hin, wende mich stattdessen dem echten Leben zu und in mir nur noch jenen Gedanken, die das Ganze bereichern und zeitloser machen. Das ist mir tatsächlich Anreiz und Sinn für ein Leben genug.

 

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[1] Das Undenkbare denken, Prisma-Verlag Gütersloh 1987, Copyright für diese Ausgabe: Macdonald & Co (Publishers) Ltd, London and Sydney.

[2] 1. Korinther, 10, 23, Elberfelder Bibel