Blickdicht

von Luxus Lazarz

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Der Renaissance-Mensch Leonardo da Vinci war wahrscheinlich der Erste, der sich mit dem Blickwinkel des Menschen aus der Sicht des Malers und auch wissenschaftlich vertraut machte. Aus den Notizen in seinen Tagebüchern geht hervor, dass er den Blick durch seine Augen als pyramidal wahrnahm. Wobei die untere Fläche der Pyramide direkt über den Augen lag und das unmittelbare Blickfeld somit eingrenzte, während sich der, nach einem Ziel strebende Blick, in der Spitze der Pyramide, beziehungsweise auf das Ferne konzentrierte.

Ein Tagtraum

Ich stehe in der Küche, die Hände im warmen Abwaschwasser nützlich bewegend. Die Wärme der Luft und des Wassers – stillen den Gedankenstrom in mir. Im Innersten weitet sich etwas, und in die Stille hinein strömen Gedanken ein, die mir merkwürdig fremd und gleichfalls vertraut erscheinen. Sie richten mich auf und bewegen den Körper zum Fenster hin, ganz ungeplant und ohne Sinn – so mittendrin – beim Abwaschen. Still steh ich da.
Draußen ist alles grün, kein Winter zu sehen, und mein Blick wird ganz weich. Leicht verschwimmen die scharfen Konturen vor den Augen. Je weicher der Blick, umso weiter wird die Sicht nach rechts und links, was das Nahe in der unmittelbaren Umgebung anbelangt. Darüber hinaus, schließt sich jegliche Ablenkung aus, ist man so ganz ohne Ziel im Blick.

Manchmal bleibt die Stille und lässt den Menschen einfach tiefer atmen und mit Freude ein wenig sinnlos Dasein. Doch in anderen Momenten, erscheinen dann weitere Gedanken, welche mich in friedvolle Welten tragen.

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Die Seele eines Menschen ist in ihrer Natur ein allumfassend freundliches Wesen. Jene Taten, die sie als grausam oder gar bestialisch in der Welt und sich selbst – erscheinen lassen, ist keinesfalls dem Sinnen und Wirken der Seele zueigen. Keine Seele würde auch nur versuchen, eine andere Seele mittels Gewalt, für immer zum Schweigen zu bringen, da im Seelenreich jedes Wesen weiß, dass es nur sich selber trifft.
Tatsächlich wirkt in diesen Fällen das Ich, jener weltgemachte Steuermann im Seelenschiff, welcher ungehemmt die Welt derart wahrnimmt, dass deren ganzer Sinn in deren tatkräftigen Verbesserung zu finden ist. Verbesserung von all dem – was war, ist und sein könnte, wenn man nur tief genug gräbt, weit genug misst und hoch genug fliegt.

So ist das Ich in dir und mir, wahrlich seelenlos unterwegs, wenn es in seinem Lechzen nach dem Bessermachen Grenzen überschreitet, die tiefe Wunden in Mensch, Tier und Erde zeitigen. Dies gilt auch für die Fantasie des Einzelnen. Die Wunden im Innersten und rundherum heilen jedoch, sobald das Ich sich selbst Raumzeit gibt, um der eigenen Seele, dem eigenen Leben näher zu kommen. Die Begegnung findet in der Stille statt, kann sogar offenen Auges passieren und dem Erfahrenden selbst als traumhaft in unvergesslicher Erinnerung bleiben.
Dabei ist es Realität, die Realität einer bisher kaum wahrgenommenen Welt, die sich nun Tag für Tag – mit der uns bisher gewohnten vermischt. Weil es so natürlich ist, denn Stille und Bewegung in Harmonie sind die wahren Kräfte, welche das Glücksrad des Lebens in einzigartiger Vollkommenheit zum Drehen bringen. So kann die Seele im Menschen leben und der Mensch in ihr.

Die Seele eine Volkes ist aus denen der Vielen geworden. Da keine Seele von Hause aus schlecht ist, kann es auch die Seele eines Volkes nicht sein. Doch auch das Volk hat ein Ich, welches durch dessen Führer, Idole, Vorbilder und Maulhelden spricht, während die Seele schweigend gewährt, was dem Ich des Einzelnen – als Erstrebenswert anmutet.

Mit Leichtigkeit könnte sie, die Seele, dem Ich so manchen Beweis dafür liefern, dass es sich häufig in seinem Wünschen irrt. Sich von der Seele entfernt, wenn der Druck in ihm wächst. Doch was würde das bringen, wo heutzutage der Wachsame weiß, dass erstaunlich viel von jenem, was jemals galt als bewiesen, letztendlich doch nur eine Theorie blieb, also irgendwann widerlegt, beziehungsweise überholt worden ist. Wie die Geschichte allerdings ebenfalls zeigt, dies zumeist nur von einer weiteren Theorie. Lediglich das Offensichtliche, was niemand beweisen braucht, bleibt wie es schon immer ist und war.

Was ist es – im Leben des Menschen, was er weder sich selbst, noch dem Anderen zu beweisen braucht. Was hat ihn, den Menschen, gleichgültig wo dieser auch war, noch niemals verlassen?

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Im grünen Blickfeld landet ein schwarzes Knäuel. Die Augen ergreifen gemächlich den weichen Punkt. Der Blick schärft sich sanft umfassend und offenbart eine Amsel, die in ungefähr vier Metern Entfernung im Rasen steht, dabei fast fragend zu mir zurück blickt. Der Übergang vom Traum – zurück in die gewohnt umgrenzende Sicht – ist vollzogen, sobald die Gedanken einfach nur Stille hinterlassen. Taucht gar die erste Sorge wieder auf, ist dies ein untrüglicher Hinweis darauf, dass mein Ich mal wieder vorübergehend, die Hand der Seele losgelassen hat.

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Der Tagtraum ist ganz leicht zu betreten. Auch das Träumen ist ganz leicht darin, die Stille um den Menschen herum, erzeugt dieser aus sich selbst. Ist der Traum überfließend sanft und schön, wird der Tagträumende kaum im Träumen gestört. Und wenn es nur wenige Minuten sind, die man träumend im Licht des Tages verbringt, wird die Wirkung – in des Menschen unverträumter Realität, keinesfalls ausbleiben. Mehr und mehr wird er wahrnehmen können, wie Elemente aus diesen Träumen in seinem Leben Gestalt annehmen und Ausdruck finden, die ihm im Traum ganz selbstverständlich zufielen.

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Kleine Anleitung zum Tagträumen

Tagträumen kann der Mensch überall, wo er angenehm sitzt und unbedrängt steht. Die Eintrittskarte in den Tagtraum ist der weiche Blick oder ein stilles Plätzchen in der Natur. Fraglos erreicht man die intensivsten Einblicke, in die unsichtbaren Nebenräume des schnöden Alltags, wenn man in einem warmen Raum verweilt und sich dort ungestört nach Innen wenden kann. Doch auch in der Öffentlichkeit, zum Beispiel an einem fließenden Gewässer sitzend, ist es relativ einfach – mittels des weichen Blicks, in den Tagtraum zu gleiten. Wobei ich in der Natur – oft zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann. Denn in dem scheinbaren Traum, höre ich die natürlichen Klänge derart klar und fühlbar, dass ich es als wahre Wirklichkeit empfinde.

Der weiche Blick

Darunter verstehe ich, kein Ziel vor der Nase, scharf mit dem Blick zu erfassen, sondern mit beiden Augen wirklich geradeaus zu schauen, die Lider leicht gesenkt. Anfänglich ist dies eine sehr ungewohnte Art des Sehens, und man spürt auch in den Schläfen, dass dort Muskeln vorhanden sind, die man anscheinend noch nie bewusst genutzt hat. Denn man merkt die Bewegung unter der Haut und die ersten Male fällt es gar nicht leicht – den Blick so zu halten. Doch bereits ein nur hin und wieder kurzes Verweilen in dieser Art des Sehens, bewirkt ebenfalls fühlbare Bewegungen im vorderen Schädelbereich. Dort bilden sich Verknüpfungen oder werden sogar bereits bestehende neu aktiviert, die weitere Möglichkeiten der Wahrnehmung gestatten.

Gibt man sich dem ungewohnten Empfinden etwas länger hin, werden Energieschübe in der Wirbelsäule zwischen den Schulterblättern fühlbar.

Diese Art zu blicken, also ganz still ohne Fokus und die Augen geradeaus in das Nichts gerichtet, ist eine Art Meditation, in der man gleichfalls entspannt und dabei jedoch fühlbar mit neuer Lebenskraft aufgeladen wird. Die Kraft kommt aus der Stille, welche sozusagen unserem Leben weitere unbeschriebene Blätter einverleibt. Dabei Zeitgewebe ablöst, das sich in uns verdichtet hat, so bewirkt sich der wahre Stoffwechsel im Reich des Geistes.

Wer einen Partner hat kann mit diesem, auch das Auge in Auge blicken durchführen. Also den konkreten Geradeaus-Blick, in das jeweilige Auge des Anderen. Das ist eine überraschend andere Art, sich näher zu kommen.

Auffälligkeiten

Seltsamerweise läuft in dieser Tagtraumspanne, so gut wie nie – ein anderer Mensch auf meinem Lieblingswanderweg durch meinen Traum. Da ist nur die Natur, die Vögel darin, das Plätschern des Wassers und der Wind. Man ist im realen Feld und dennoch der herkömmlichen Realität entrückt, umgeben von einer so klar und bunt gezeichneten Welt, in der es keine Ecken und Kanten gibt.
Wenn ich dann zurückkehre, in die Welt der Schaufelbagger, Ackermaschinen, Motorsägen und Rasenmäher, sind diese – soweit die Stille in mir anhält – nicht zu hören. Doch verliere ich mich auf dem Weg nach Hause wieder in Gedanken, die absolut nichts mit dem Gegenwärtigen gemein haben, nimmt das Konzert der Geräusche – in der mich umgebenden Welt – wieder an Lautstärke zu. Bin ich erneut wachen Sinnes unterwegs, ebbt der Klang wieder ab. Grad so, als wenn das Meer flüchtiger Gedanken in mir, ein Meer von Geräuschen im Außen anzieht.

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Danke fürs Lesen und stille Verstoffwechseln.

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