Zeichentricks mit Ameisen

Warum fällt es dem Menschen allgemein leichter, Ameisen dauerhafte und freundliche Aufmerksamkeit zu schenken, wenn diese in Zeichentrickfilmen menschlich erscheinen, als bei deren direktem Erleben in der Natur?

 

Nur wenige Menschen können  90 Minuten in der wahren Natur und dies auch noch mit Wohlwollen, das Treiben in und um einen echten Ameisenhaufen aufmerksam beobachten. Eher erinnert sich der Mensch daran, was eine Ameise in einem Zeichentrickfilm sagte, als an jenes, was ihm die Realität der Natur wahrhaft offenbarte. Warum sollte sich der Mensch auch an eine Ameise im Wald erinnern, die ihn weder ansprach noch angriff, dem Menschen nichts anbot oder wegnehmen wollte, diesen nichts fragte, nichts sagte, nichts tat, was von Belang für sein gegenwärtiges Leben gewesen wäre?

Da die echte Ameise im Wald offenbar keinerlei verwertbare Information für den Menschen bereit hielt, weder technischer, spiritueller noch psychologischer Natur,  fiel sie dem Menschen kaum auf. Sie war so unwichtig, dass der Mensch sie kaum sah. Jene Ameisen jedoch, die der Mensch im Film mit Aufmerksamkeit beschenkte, waren ihm sehr ähnlich. Sie hatten die gleichen Probleme, wie der Mensch in seinem Leben. Doch obwohl die niedlich gezeichneten Ameisen so klein waren, fanden sie in den Filmen immer einen Weg, ihr Problem zu lösen. Diese, dem Menschen ähnlichen Ameisen, machten ihm Mut. Mut, nicht aufzugeben, selbst, wenn der Mensch scheinbar noch so tief im Schlamassel steckte. Das wiederum machte die Ameisen sympathisch, gar zu Filmhelden, und der Mensch fühlte sich mit den Ameisen in ihrem Leid und in ihrer Freude verbunden.

Der Mensch erschuf jedoch durch derartiges Empfinden einen Konflikt in sich. Beim Schauen der Filme rollte aus seinen Augen sogar hin und wieder eine Träne. Man fühlte sich verbunden, mit jenen Wesen im Film. Doch in der Realität, fern von jedem Zeichentrick, sah die Welt ganz anders aus. Was in der Fantasie lieb gewonnen und mitfühlend als sympathisch wahrgenommen, wurde im Alltag brutal und gefühllos mit Gift besprüht. Wenn das kein Konfliktstoff für des Menschen Psyche ist, was dann?

Was könnte ein Mensch wohl sehen, wenn er 90 Minuten Ameisen in der Natur beobachtet? Als Erstes könnte der Mensch hören, dass die Ameisen nicht miteinander reden und dennoch sich irgendwie alles  in harmonischer Gemeinschaft entwickelt. Obwohl manches Krabbeln leicht chaotisch erscheint, gibt es keine Verkehrsunfälle oder andere dramatische Zwischenfälle. Es gibt Einzelgänger, aber auch jene Ameisen, die auf ein unsichtbares Kommando hin, alle in eine bestimmte Richtung laufen, um dort dann wortlos eine Transportgruppe oder auch Kette zu bilden, und zwar für jenes, was an diesem Ort liegt sowie für den Ameisenhaufen nützlich erscheint. Das kann ein Samenkorn sein, ein Stückchen Obst, eine tote Fliege, ein Brotkrümel und vieles mehr. Ameisen scheinen alles Organische zu mögen und auch nutzen zu können.

Innerhalb dieser 90 Minuten kann der Mensch so viel Schönes, Erstaunliches, Beachtliches und Merkwürdiges sehen, wie in keinem mir bekannten Zeichentrickfilm. Was wohl daran liegen mag, dass es sich bei der unmittelbaren Beobachtung um Echtes handelt. Eine Realität, die unter dem stillen Blick des Sehenden, gleichsam fließt, sich entfaltet und nach einem nicht haltbaren Muster verändert, an manchen Stellen auflöst und an anderen wiederum stetig neu greifbar erscheint. Nichts verschwindet wirklich, alles verändert sich, ist in Bewegung. Das menschliche Auge kann Bewegung und Ruhe in einem Blick erfassen.

…und der klare Beobachter sieht, dass einige wesentliche Elemente des Zeichentrickfilmes in der Realität fehlen. Es gibt kein Gut und Böse. Die Ameisen sind einfach, was sie sind. Ameisen. Ihr Verhalten, ihre Art zu leben, kann nicht mit menschlichen Ansichten und Eigenarten verglichen werden.

90 Minuten, in denen das Leben der Ameisen beobachtet wurde, brachten Erstaunliches ins Licht. Berücksichtigt man allein die Entfernung, welche sowohl die Ameise als auch der Mensch in dieser Zeit hinter sich bringen können, wird klar ersichtlich, dass es sich bei 90 Minuten Menschenzeit – im Verhältnis zur Ameise, um nicht wirklich vergleichbare Ausgangspositionen handelt. Es sei dennoch vermerkt: Innerhalb dieser 90 Minuten griffen die Ameisen kein Lebewesen an. Es wurden auch keine Truppenbewegungen gesehen, die auf kriegerische Absichten gegenüber einem benachbarten Ameisenhaufen schließen ließen.

 

 

Zusammengefasst: Es geschah nichts. Nichts, was darauf hinweisen könnte, dass die Ameisen in den Zeichentrickfilmen, auch nur entfernt verwandt sind, mit den Waldameisen. Denn Erstere haben derart viele Probleme, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von Menschen adoptiert und heftig beeinflusst wurden.

Nun schaue ich mir solche Filme nicht mehr an, weil ich weiß, alles nur Schwindel und Lügen. Ameisen haben keine menschlichen Probleme. Dies ist nur eine von Menschen gemachte Illusion. Auch erscheint es mir zunehmend abartig, mich in einen dunklen Saal aufzuhalten und mir dort Szenarien anzusehen, die absolut nichts mehr, mit der mir geschenkten Wirklichkeit gemeinsam haben. Denn offensichtlich wurde ebenfalls, dass die realen Ameisen ganz anders als wir Menschen sind. Was man unter anderem daran erkennen konnte, dass sie wohl noch nie ein Atomkraftwerk bauten, sondern seit ungezählten Jahrtausenden ausschließlich ihre eigene Energie nutzen, um zu leben und dies stets im Verbund mit aller Natur, der Erde und dem Ameisen-Kosmos allgemein. Das ist für mich wahrlich bemerkenswert. Denn so ganz ohne Kostüm, Mikrofon und Kamera, brauchen die Ameisen genau wie die Liebe, weder Film noch Bühne, um wahrhaft lebendig zu sein.
In einem Buch las ich sogar, dass eine Ameisenkönigin bis zu 30 Jahre leben kann. Zwar wird im Menschenreich, manche Königin bis zu 100 Jahre alt, doch betrachtet man die Größe und all die Möglichkeiten, welche unsereins zur Verfügung stehen, sind doch 100 Jahre für einen Menschen wahrlich lächerlich. Andererseits empfinde ich es doch auch außerordentlich großzügig, dass der Mensch so lange lebt, obwohl die Natur die Ameisen offensichtlich braucht, doch den Menschen eigentlich nicht. Denn was kann ein Mensch schon tun, um auch für die Natur, die Basis des irdischen Lebens, wirklich nützlich zu sein?